Der Maiabend
Umweht von Maiduft, unter des Blütenbaums
Helldunkel sahn wir Abendgewölk verglühn,
Des vollen Monds Aufgang erwartend,
Und Filomelengesäng' im Thalbusch.
Lau war die Dämmrung; traulicher scherzten wir
Mit nachgeahmter Fröhlichkeit. Bald verstummt
In holdem Tiefsinn, sass das Mägdlein,
Stammelte: Wollen wir gehn? und ging nicht.
Die Hand in meiner zitterte. Bleib, o bleib!
Kaum athmend lallt' ich's. Wonne! da fügten wir,
Nach manchem Freundschaftskuss, den Brautkuss,
Nicht Filomela noch Mond bemerkend.
Johann Heinrich Voß, Wandsbeck 1775
In: Sämtliche Gedichte von Johann Heinrich Voß. Th. 3. Oden und
Elegien. Königsberg: Friedrich Nicolovius 1802, S. 83f.
Vertonung: Fanny Mendelssohn-Hensel, Lieder op. 9 (Strophe 1-2)
Literatur: Karl Viëtor: Geschichte der deutschen Ode. München
1923, S. 129